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Text Of The Book: Buddha Was Not Demolished In Afghanistan; It Collapsed Out Of Shame (Deutsch)

Fri, 13/09/2013 - 17:21

 
SONDERBEILAGE
Angst vor Hunger und Tod, Afghanistan vor dem Krieg
von Mohsen Makhmalbaf, Iran
 
Der iranische Filmemacher Mohsen Makhmalbaf hat im Juni dieses Jahres, also noch
vor den Attentaten in den USA, einen bewegenden Essay über das Land Afghanistan
geschrieben, den wir nachfolgend abdrucken. Der Bericht vermittelt einen tiefen
Einblick in das Land, in die Lebensweise seiner Einwohner und zeigt uns, wie
unglaublich schwierig die Lebensverhältnisse der Bevölkerung bereits vor dem
laufenden Krieg waren. Die US-amerikanische Kriegswalze hat nun, unterstützt von
zahlreichen Verbündeten, die Situation für die Zivilbevölkerung nochmals
dramatisch verschärft. Der weltweite Aufschrei gegen eine solche
Unmenschlichkeit muss lauter werden!
 
Makhmalbaf erhielt Anfang Oktober dieses Jahres für seinen Film «Kandahar» die
Fellini-Medaille der Unesco. Bei der Verleihung sagte er, Afghanistan sei bis zu
den Ereignissen in den USA ein vergessenes Land gewesen. Und heute interessiere
sich die Welt weniger für Afghanistan, weil es dem Land helfen wolle, sondern
aus Rache.
 
Wenn Sie meinen Artikel vollständig lesen, wird das eine Stunde Ihrer Zeit in
Anspruch nehmen. In dieser Stunde werden 14 weitere Menschen in Afghanistan am
Hunger und Krieg gestorben sein und 60 werden Flüchtlinge in anderen Ländern
sein. Ich schrieb diesen Artikel, um die Hintergründe dieser Sterblichkeit und
Fluchtbewegungen zu beschreiben. Wenn dieses bittere Thema bedeutungslos für Ihr
angenehmes Leben ist, dann lesen Sie ihn besser nicht.
Afghanistan in den Augen der WeltLetztes Jahr nahm ich an dem Filmfestival in Pusan in Südkorea teil.
 
 Dort wurde ich nach dem Thema meines nächsten Filmes gefragt. Wenn ich antwortete:
«Afghanistan», dann kam prompt die Frage: «Was ist Afghanistan?» Warum ist das
so? Warum kann ein Land so unbedeutend sein, dass man in anderen asiatischen
Ländern wie Südkorea noch nie davon gehört hat?
 
Der Grund ist offensichtlich. Afghanistan spielt in der heutigen Welt keine
Rolle. Als Land ist es weder für bestimmte Güter noch für wissenschaftliche
Fortschritte oder für künstlerische Ehren bekannt. In den USA, in Europa und im
mittleren Osten ist die Situation aber anders und man kennt Afghanistan aus
anderen Gründen.
 
Diese Bekanntheit hat aber keine positive Konnotation. Wer den Namen Afghanistan
sofort erkennt, assoziiert damit den Schmuggel, die Taliban, islamistischen
Fundamentalismus, den Krieg mit Russland, einen andauernden Bürgerkrieg, Hunger
und eine hohe Sterblichkeitsrate. In dieser persönlichen Wahrnehmung ist keine
Spur von Frieden, Stabilität oder Entwicklung zu finden. Daher entsteht auch
kein Bedarf nach touristischen Reisen oder geschäftlichen Investitionen in
Afghanistan.
 
Warum sollte man also dieses Land nicht der Vergessenheit anheim fallen lassen?
Die Verunstaltung der Wahrnehmung Afghanistans ist so gross, dass man bald in
Lexika schreiben wird, dass Afghanistan ein drogenproduzierendes Land mit einer
rauhen, aggressiven und fundamentalistischen Bevölkerung ist, die ihre Frauen
unter Schleiern ohne Öffnungen versteckt.
 
Zu all dem kommt die Zerstörung der grössten bekannten Buddha-Statue hinzu, die
vor kurzem das Mitgefühl der gesamten Welt erregte und alle Kunst- und
Kulturkenner zur Verteidigung der dem Untergang geweihten Statue mobilisierte.
Aber warum brachte ausser der UN-Hochkommissarin Ogata keiner seinen Kummer über
die Millionen Afghanen, denen der Hungertod droht, zum Ausdruck? Warum spricht
niemand über die Gründe für diese Sterblichkeit? Warum schreit jeder laut über
die Zerstörung der Buddha-Statue, während man nichts zur Verhinderung des Todes
der hungernden Afghanen unternimmt? Werden in unserer schönen neuen Welt Statuen
höher geschätzt als das Leben von Menschen?
 
Ich habe Afghanistan bereist und war Zeuge des Lebens in diesem Land. Als
Filmemacher habe ich in einem zeitlichen Abstand von 13 Jahren zwei Filme
gemacht, die Afghanistan vorstellen (The Cyclist, 1988, und Kandahar, 2001).
Dazu habe ich ungefähr 10000 Seiten aus Büchern und Dokumenten gelesen, um Daten
für meine Filme zu gewinnen. In der Folge gewann ich ein anderes Bild von
Afghanistan als der Rest der Welt. Es ist ein komplexes, anderes und tragisches
Bild, aber genauer und positiver. Es ist ein Bild, das der Aufmerksamkeit
bedarf, es darf nicht dem Vergessen und der Unterdrückung anheimfallen.
Aber wo ist Sa´di, um diese Tragödie zu sehen, der Sa´di, dessen Gedicht «Alle
Menschen sind Glieder eines Körpers» über dem Portal der Vereinten Nationen
hängt?
 
Afghanistan in den Köpfen des iranischen Volkes
Der Eindruck, den Afghanistan in der Vorstellung des iranischen Volkes macht,
basiert auf demselben Bild, das die Amerikaner, Europäer und Menschen des
mittleren Ostens haben. Der einzige Unterschied besteht darin, dass es für sie
nicht so weit weg ist. Iranische Arbeiter, Menschen aus dem südlichen Teheran
und die Arbeiter in den iranischen Städten betrachten die Afghanen nicht mit
freundlichen Augen und sehen sie als Konkurrenten um die Arbeitsplätze. Sie
übten Druck auf das Arbeitsministerium aus und verlangten, dass die Afghanen in
ihre Heimat zurückgeschickt werden.
 
Die reicheren Iraner finden die Afghanen aber durchaus vertrauenswürdig, als
Hauswarte und Gärtner. Bauunternehmer glauben, dass Afghanen bessere Arbeiter
als ihre iranischen Kollegen sind und niedrigere Löhne verlangen. Die Behörden,
die gegen die Drogen kämpfen, sehen sie als Schlüsselelement im Drogenhandel und
schlagen vor, die Schmuggler niederzuschlagen und alle Afghanen zu deportieren,
um dem Drogenproblem so ein für alle Male ein Ende zu bereiten. Ärzte betrachten
die Afghanen als Ursache einiger epidemischer Krankheiten wie der Afghanischen
Grippe, die es zuvor im Iran nicht gab. Sie bieten die Immunisierung vom Inneren
Afghanistans her an, und haben dabei auch die Kosten der Polioimpfung für die
afghanische Bevölkerung getragen.
 
Die Sicht der Welt auf Afghanistan
 
Schlagzeilen, die einer bestimmten Nation zugeordnet werden, müssen immer genau
überprüft werden. Das Bild eines Landes, das der Welt von den Medien vermittelt
wird, ist immer eine Kombination der Fakten über dieses Land mit Annahmen über
bestehende innere Bilder, welche die Medien bei den Menschen der Welt wachrufen
wollen. Falls man von einigen Ländern annimmt, dass sie einen bestimmten Ort
begehren, dann ist es nötig, dass die Medien dazu die Grundlagen liefern.
Sowie ich es sehe, gibt es im heutigen Afghanistan nichts, was die Begierde
wecken könnte, ausser den Mohnsamen. Daher hat Afghanistan so gut wie keinen
Anteil an den Nachrichten der Welt, und die Lösung seiner Probleme ist in der
nächsten Zukunft kaum zu erwarten. Wenn Afghanistan wie Kuwait Öl oder einen auf
Öl gründenden Einkommensüberschuss hätte, dann hätten die Amerikaner es in 3
Tagen zurückgenommen, und die Kosten der amerikanischen Armee hätten durch
diesen Einnahmeüberfluss gedeckt werden können.
 
Als die Sowjetunion noch existierte, erhielten die Afghanen die Aufmerksamkeit
der westlichen Medien, weil sie gegen den Ostblock kämpften und Zeugnis für die
kommunistische Unterdrückung ablegten. Warum unternahm die USA, die angeblich
die Menschenrechte unterstützen, nach dem Rückzug der Sowjets und der
Desintegration der Sowjetunion keine ernsthaften Versuche, 10 Millionen Frauen,
die der Bildung und sozialer Betätigung beraubt waren, zu helfen oder um die
Armut und Hungersnot, die so viele Menschen dahinraffte, auszurotten?
 
Die Antwort ist, weil Afghanistan auf lange Sicht nichts Begehrenswertes zu
bieten hat. Afghanistan ist nicht wie ein schönes Mädchen, das den Herzschlag
von tausend Liebhabern in die Höhe treibt. Unglücklicherweise ähnelt es heute
einer alten Frau. Wer sie begehrt und sich ihr nähert, muss die Kosten für einen
Todgeweihten tragen, und wir wissen, dass unsere Zeiten nicht die Zeiten Sa´dis
sind, als «Alle Menschen Glieder eines Körpers» waren.
 
Afghanistans Tragödie in der Statistik
 
Es gibt in Afghanistan keine wirklich exakte Sammlung statistischer Daten der
letzten zwei Jahrzehnte. Daher sind die folgenden Zahlen und Daten nur
Näherungswerte. Gemäss dieser Zahlen betrug die Bevölkerung Afghanistans im Jahr
1992 20 Millionen. Während der letzten 20 Jahre und seit der russischen
Besatzung starben ungefähr 2,5 Millionen Afghanen an den direkten oder
indirekten Kriegsfolgen, an Armeeüberfällen, Hungersnot oder Mangel an
medizinischer Versorgung.
 
Mit anderen Worten: Jedes Jahr starben 125000 Menschen, das macht 340 Menschen
pro Tag oder 14 Menschen pro Stunde oder 1 Mensch alle 5 Minuten, die entweder
getötet wurden oder an dieser Tragödie zugrunde gingen. Dies ist die Welt, in
der die Mannschaft des unglücklichen russischen U-Boots vor einigen Monaten dem
Tod ins Auge sah, was von allen Nachrichtensatelliten minutenlang übertragen
wurde. In einer Welt, in der auch die Zerstörung der Buddha-Statue non-stop
übertragen wurde.
 
Aber niemand spricht von dem tragischen Tod der Afghanen im 5-Minuten-Takt
während der letzten 20 Jahre. Die Anzahl der afghanischen Flüchtlinge ist noch
tragischer. Gemäss etwas genauerer Statistiken beträgt die Zahl der Flüchtlinge
ausserhalb Afghanistans in Pakistan und im Iran 6,3 Millionen. Teilt man diese
Zahl durch die Minuten der letzten zwanzig Jahre, dann wurde jede Minute ein
Mensch zum Flüchtling. In dieser Zahl fehlen die Menschen, die innerhalb
Afghanistans von Norden nach Süden und umgekehrt geflüchtet sind, um den
Bürgerkrieg zu überleben.
 
Ich persönlich kann keine Nation nennen, deren Bevölkerung durch die
Sterblichkeit um 10% reduziert wurde und durch die Migration um 30% und dennoch
von der Welt mit einer solchen Gleichgültigkeit behandelt wurde. Die Gesamtzahl
der getöteten Menschen und der Flüchtlinge in Afghanistan entspricht der
gesamten palästinensischen Bevölkerung, aber selbst unser iranischer Anteil an
Sympathie erreicht nicht einen Bruchteil von dem, den wir für Palästina oder
Bosnien aufbringen, obwohl wir eine gemeinsame Sprache und Grenze mit den
Afghanen teilen.
 
Als ich die Grenze zu Afghanistan an der Zollstation Dogharoon übertrat, sah ich
ein Schild, das die Besucher vor merkwürdig aussehenden Gegenständen warnte.
Dies sind Minen. Das Schild warnte: «Alle 24 Stunden treten 7 Menschen in
Afghanistan auf eine Mine. Seien Sie vorsichtig, damit Sie weder heute noch
morgen einer von ihnen sind.»
 
Weitere exakte Zahlen erhielt ich in einem der Rot-Kreuz-Lager. Eine kanadische
Gruppe war gekommen, um Minen zu entschärfen. Aber sie fanden die Tragödie so
erdrückend, dass sie die Hoffnung verloren und nach Hause zurückkehrten. Gemäss
diesen Zahlen werden in den nächsten 50 Jahren die Afghanen in Gruppen über die
Minen treten müssen, um ihr Land wieder sicher und bewohnbar zu machen. Der
Grund liegt darin, dass die Minen von den verschiedenen kämpfenden Gruppen ohne
Karten und Pläne verlegt wurden, die nötig wären, um sie später wieder
einsammeln zu können. Die Minen wurden nicht nach militärischer Art verlegt, so
dass sie zu Friedenszeiten wieder geräumt werden können. Eine Nation hat sich
gewissermassen selbst vermint. Und wenn es in Strömen regnet, dann werden die
Minen von den Wasserbächen verschoben und verwandeln einst sichere Strassen in
Todesfallen.
 
Diese Statistiken offenbaren das Ausmass der Unsicherheit in der Lebenswelt
Afghanistans, das zur ständigen Auswanderung führt. Die Afghanen empfinden ihre
Situation als gefährlich. Es gibt eine anhaltende Angst vor Hunger und Tod.
Warum sollten die Afghanen nicht auswandern? Eine Nation mit einer
Auswanderungsrate von 30% fühlt sich gewiss hoffnungslos gegenüber ihrer
Zukunft. Von den zurückgebliebenen 70% starben 10%, beziehungsweise sie wurden
getötet. Die restlichen 60% waren nicht in der Lage, die Grenzen zu überqueren
oder wurden bei dem Versuch wieder von den Nachbarländern zurückgeschickt.
Diese gefährliche Situation war auch ein Hindernis für eine ausländische Präsenz
in Afghanistan. Ein Geschäftsmann würde nie das Risiko eingehen, dort zu
investieren, es sei denn, er wäre ein Drogenhändler. Politische Experten
bevorzugen es, direkt in westliche Länder zu fliegen. Das erschwert es, die
Krise, in der sich Afghanistan befindet, zu lösen. Wegen der auferlegten
UN-Sanktionen und wegen der Sicherheitsfrage haben nur drei Länder offiziell und
zwei Länder inoffiziell politische Experten in Afghanistan. Es werden nur
politische Vorschläge aus sicherer Distanz angeboten.
 
Dies verstärkt das Ausmass der Krise in einem Land, das mit einer Tragödie von
solcher Tragweite und mit der Gleichgültigkeit der Welt konfrontiert ist.
 
Ich war Zeuge, als 20000 Männer, Frauen und Kinder im Umkreis der Stadt Herat
sich zu Tode hungerten. Sie konnten nicht mehr gehen und waren auf dem Boden
verstreut, um das unvermeidliche Ende zu erwarten. Es war die Folge der letzten
Hungersnot. Am selben Tage besuchte die damalige Hohe Kommissarin der UN, Sadako
Ogata, diese Menschen und versprach, dass die Welt ihnen helfen würde. Drei
Monate später hörte ich im iranischen Radio, dass Frau Ogata die Anzahl der am
Hunger sterbenden Afghanen mit 1 Million landesweit angab.
 
Ich kam zu dem Schluss, dass die Buddha-Statue von niemandem zerstört wurde: Sie
zerbrach an der Scham. Aus Scham über die Gleichgültigkeit der Welt gegenüber
Afghanistan. Sie brach zusammen, weil sie wusste, dass ihre Grösse niemandem
nutzte.
 
In Dushanbe in Tadschikistan sah ich eine Szene, in der 100000 Afghanen auf
blossen Füssen von Süden nach Norden liefen. Es sah aus wie das Jüngste Gericht.
Diese Szenen werden in den Medien der Welt nie gezeigt. Die vom Krieg
geschundenen und hungrigen Kinder waren Meile um Meile barfuss gelaufen. Später
wurde diese fliehende Gruppe von eigenen Streitkräften angegriffen, und
Tadschikistan verweigerte das Asyl. Sie starben zu Tausenden, und sie starben im
Niemandsland zwischen Afghanistan und Tadschikistan, und weder Sie noch irgend
jemand sonst bemerkte es.
 
Wie es Frau Golrokhsar, die bekannte tadschikische Dichterin, sagte: «Es ist
nicht seltsam, wenn jemand auf der Welt wegen so vieler Sorgen, wie sie
Afghanistan hat, stirbt. Wirklich seltsam ist, warum niemand an diesem Kummer
stirbt.»
 
Afghanistan - Land ohne Bilder
 
Afghanistan ist ein Land ohne Bilder und dies aus verschiedenen Gründen. Die
afghanischen Frauen sind gesichtslos, was bedeutet, dass 10 Millionen der
insgesamt 20 Millionen Afghanen nicht gesehen werden können. Eine Nation, deren
weibliche Hälfte nicht gesehen werden kann, ist eine Nation ohne Bilder.
Während der letzten Jahre gab es keine Fernsehsendungen. Es gibt nur wenige
zweiseitige Zeitungen mit den Namen Shariat, Heevat und Anise, die nur aus
bilderlosem Text bestehen. Das ist auch schon die Gesamtheit der Medien
Afghanistans. Die Malerei und die Fotografie sind ebenfalls im Namen der
Religion verboten. Ausserdem darf kein Journalist Afghanistan betreten,
geschweige denn Fotos aufnehmen.
 
In der Morgenröte des 21. Jahrhunderts gibt es keine Filmproduktionen oder Kinos
in Afghanistan. Zuvor gab es 14 Kinos, die Produktionen der indischen
Filmindustrie zeigten, und kleine Filmstudios, deren Produktion die indischen
Filme imitierte, aber auch diese sind verschwunden.
 
In der Welt des Kinos, in der jährlich Tausende von Filmen produziert werden,
kommt nichts aus Afghanistan. Hollywood hat aber den Film «Rambo» über den Krieg
in Afghanistan produziert. Der Film wurde vollständig in Hollywood gedreht, kein
einziger Afghane nahm an ihm teil. Die einzige authentische Szene ist die
Anwesenheits Rambos in Peshawar, und dies nur dank der Technik der
Rückprojektion. Der Film besteht fast nur aus Action-Szenen, die Erregung
erzeugen sollen. Dies ist Hollywoods Bild eines Landes, in dem 10% der
Bevölkerung ausgerottet und 30% zu Flüchtlingen gemacht wurde, und in dem
zurzeit eine Million Menschen am Hunger sterben.
 
Die Russen produzierten zwei Filme, die sich mit den Erinnerungen der russischen
Soldaten während der Besetzung Afghanistans beschäftigen. Die Mudschahedin
machten nach dem russischen Rückzug einige Filme, die eigentlich Propagandafilme
waren und kein genaues Bild über die Vergangenheit und das heutige Afghanistan
liefern. Sie geben einfach ein heroisierendes Bild einiger Afghanen, die in der
Wüste kämpfen, wieder.
 
Im Iran wurden zwei Filme über die Situation afghanischer Immigranten gedreht:
«Friday» und «Rain». Ich selbst drehte zwei Filme, «Der Radfahrer» (The Cyclist)
und «Kandahar». Das ist der vollständige Katalog der Bilder über Afghanistan in
den Medien des Iran und der Welt. Selbst in den internationalen
Fernsehproduktionen gibt es nur wenige Dokumentarfilme über Afghanistan.
Vielleicht ist es eine innere oder äussere Verschwörung oder eine universale
Ignoranz, die Afghanistan zu einem Land ohne Bilder macht.
Das historische Bild eines bilderlosen Landes
Afghanistan entstand infolge einer Abspaltung vom Iran. Es war vor 250 Jahren
eine iranische Provinz und Teil der Gross-Khorasan-Provinz zur Zeit des Nadir
Schah. Als Nadir Schah aus Indien zurückkehrte, wurde er eines Nachts in
Ghoochan ermordet. Ahmad Abdali, ein Kommandeur in Nadir Schahs Armee, floh mit
einem Regiment von 4000 Soldaten. Er erklärte die Unabhängigkeit vom Iran, und
so wurde Afghanistan gegründet.
 
Zu dieser Zeit bestand das Land aus Bauern und wurde von verschiedenen Stämmen
beherrscht. Da Ahmad Abdali zum Stamm der Paschtunen gehörte, konnte er nicht
als absoluter Herrscher von den anderen Stämmen, zum Beispiel den Tadschiken,
Hasaras und Usbeken, anerkannt werden. Daher kam man überein, dass jeder Stamm
von seinen eigenen Führern regiert werden sollte. Die Herrscher bildeten einen
Stammesföderalismus, dessen beratende Versammlung als Loya Jirga bekannt wurde.
Seit damals und bis heute entstand keine passendere oder gerechtere
Regierungsform in Afghanistan. Das System der Loya Jirga zeigt nicht nur, dass
sich Afghanistan ökonomisch nie aus seiner landwirtschaftlichen Existenz
weiterentwickelt hat, sondern auch, dass das Stammesgesetz nie hat überwunden
werden können. Afghanistan entwickelte nie ein Nationalgefühl.
Ein Afghane sieht sich selbst erst dann als Afghane, wenn er das Land verlassen
muss. Er wird mit Mitleid betrachtet oder leidet unter der Demütigung. In
Afghanistan ist jeder Afghane ein Paschtune, ein Hasara, ein Usbeke oder ein
Tadschike. Im Iran, vielleicht mit Ausnahme Kurdistans, sind wir alle zuerst
Iraner. Nationalität ist der erste Aspekt in unserer Wahrnehmung einer
gemeinsamen Identität. Aber in Afghanistan sind alle zuvorderst Mitglieder eines
Stammes. Stammeszugehörigkeit ist der erste Aspekt ihrer Identität.
Das ist der offensichtlichste Unterschied zwischen dem Denken eines Iraners und
dem eines Afghanen. Selbst bei den Präsidentenwahlen im Iran ist die ethnische
Zugehörigkeit keine nationale Angelegenheit und hat keinen Einfluss auf das
Wahlverhalten. In Afghanistan waren die wichtigsten Führer des Landes seit den
Zeiten Ahmad Abdalis bis zu den Taliban immer Paschtunen. (Mit Ausnahme der
neunmonatigen Herrschaft des Habiballah Galehkani, die als die Bacheh-Sage
bekannt wurde und den zwei Jahren des tadschikischen Burhannuddin Rabbani.) Aber
die Menschen Afghanistans waren seit der Zeit des Ahmad Abdali immer zufrieden
mit der Stammesherrschaft.
 
Was zeigt dieser Vergleich mit dem Iran? Unter Resa Schah wurde die
Stammesherrschaft geschwächt und durch einen Nationalismus ersetzt. Dies geschah
nicht in Afghanistan. Sogar die Mudschahedin Afghanistans kämpften gegen die
ausländischen Feinde nie als nationale Einheit, sondern jeder Stamm führte den
Krieg gegen die ausländischen Feinde in seinen Stammesgebieten.
Während ich den Film «Kandahar» drehte, war ich in einem Flüchtlingslager an der
iranisch-afghanischen Grenze. Ich bemerkte, dass selbst die afghanischen
Flüchlinge, die unter den schwierigen Lagerbedingungen lebten, keine nationale
afghanische Identität akzeptierten. Die Zugehörigkeit zu den Tadschiken, Hasaras
oder Paschtunen war ständig Anlass zu Streit. Eheschliessungen zwischen den
Stämmen finden immer noch nicht statt. Auch Geschäftsbeziehungen bleiben
innerhalb des Stammes. Und beim kleinsten Konflikt besteht die Gefahr, dass es
zu einem Blutvergiessen kommt. Ich war einmal Zeuge, wie ein Stammesangehöriger
jemand anderen tötete, aus Rache für ein Vordrängeln in einer Brotschlange.
Im Flüchtlingslager Niatak (an der iranisch-afghanischen Grenze) leben 5000
Menschen. Die Kinder der Hasaras finden es nicht selbstverständlich, mit denen
der Paschtunen zu spielen. Manchmal kommt es zu aggressivem Verhalten.
Tadschiken und Hasaras betrachten die Paschtunen als ihre grössten Feinde auf
Erden, die Paschtunen erwidern dieses Gefühl. Sie besuchen nicht einmal die
Moscheen der anderen zum Beten. Wir hatten Probleme, die Kinder nebeneinander zu
setzen, um ihnen einen Film zu zeigen. Als Kompromiss zeigten wir den Film
zweimal, zuerst schauten die Hasara-Kinder zu, dann die Paschtunen-Kinder.
Es gab viele Krankheiten in diesem Lager und keine Ärzte. Wenn ein Arzt aus der
Stadt geholt wurde, dann liessen es die Lagerinsassen nicht zu, dass die
Kränksten zuerst behandelt wurden. Die Stammesordnung musste eingehalten werden.
An einem Tag wurden die Kranken der Hasaras, am anderen Tag die Kranken der
Paschtunen behandelt. Hinzu kamen noch die Rangunterschiede bei den Paschtunen,
so dass sie nicht alle am gleichen Tag in die Klinik kommen konnten.
Als wir noch einige Zusatzszenen für den Film drehten, mussten wir uns zwischen
den Hasaras und Paschtunen entscheiden, obwohl alle Flüchtlinge waren und unter
dem gleichen Elend litten. Aber Stammesfragen stehen bei jeder Entscheidung im
Vordergrund. Natürlich hatte keiner Erfahrungen mit dem Kino. Wie meine
Grossmutter dankten sie Gott, dass sie nie einen Fuss in ein Kino gesetzt
hatten.
 
Der Grund für das Überdauern der Stämme in Afghanistan liegt in der
landwirtschaftlichen Lebensweise. Jeder afghanische Stamm ist in seinem Tal
zwischen hohen geographischen Wänden eingesperrt und ist ein Gefangener seiner
Kultur, welche die bergige Natur und ländlichen Gegebenheiten seines Tales
widerspiegeln. Die Stammeskultur ist ein Produkt der landwirtschaftlichen
Lebensumstände in den tiefen Tälern Afghanistans. Der Glaube an den Stamm ist so
tief wie diese Täler.
 
Die Topografie Afghanistans ist zu 75% gebirgig, von denen nur 7% für die
Landwirtschaft geeignet sind. Ihm fehlt auch nur der leiseste Anschein von
Industrie. Das Land ist vollständig von der Landwirtschaft abhängig, da die
Graswiesen in den Jahren ohne Trockenheit die einzigen kontinuierlich
verfügbaren Ressourcen sind. Die Landwirtschaft ist auch die Grundlage des
Stammestums, das wiederum die Basis tiefer innerer Konflikte bildet. Dies hält
Afghanistan nicht nur davon ab, ein modernes Land zu werden, es verhindert auch,
dass diese Noch-nicht-Nation eine nationale Identität entwickeln kann.
Es gibt keinen allgemeinen inneren Glauben an etwas, das Afghanistan und
Afghanen heisst. Die Afghanen sind noch nicht dazu bereit, in einer grösseren
gemeinsamen Identität mit dem Namen auch in das Volk von Afghanistan aufzugehen.
Im Gegensatz zu der falschen Bezeichnung «religiöser Krieg» liegt der Ursprung
der Auseinandersetzung in Stammeskonflikten. Die Tadschiken, die heute die
Taliban bekämpfen, sind Muslime und Sunniten genau wie die Taliban. Die
Intelligenz des Ahmad Abdali wird heute noch nicht hoch genug geschätzt. Sie
zeigt sich in der Konstruktion des Begriffes Stammesföderalismus. Er war klüger
als die, die mit der Herrschaft eines Stammes über alle anderen oder mit der
Herrschaft eines Individuums über die ganze Nation liebäugelten, als die
Stammeskultur und die Wirtschaft noch intakt waren.
 
Die Paschtunen mit einer Bevölkerung von ungefähr 6 Millionen sind der grösste
Stamm Afghanistans. Danach kommen die Tadschiken mit ungefähr 4 Millionen
Menschen und an dritter und vierter Stelle kommen die Hasaras und Usbeken mit
einer Bevölkerung von 4 Millionen beziehungsweise einer zwischen 1 und 2
Millionen. Der Rest sind kleine Stämme wie die Imagh, die Fars, die Balutschen,
die Turkmenen und die Queselbasch.
 
Die Paschtunen bevölkern hauptsächlich den Süden, die Tadschiken den Norden und
die Hasaras die Mitte Afghanistans. Diese geographische Konzentration in
verschiedenen Regionen führt entweder zu einer vollständigen und endgültigen
Desintegration oder zu einer ständigen Verbindung zum Stammesführer durch das
System der Loya Jirga. Die einzige Alternative zu diesen beiden Szenarien
erfordert Änderungen in der wirtschaftlichen Infrastruktur und die Ersetzung der
Stammesidentität durch eine nationale Identität.
Wenn wir heute im Iran unabhängig von Fragen der Stammeszugehörigkeit einen
Präsidenten wählen können, dann verdanken wir dies der wirtschaftlichen
Transformation durch das Öl, zumindest gilt dies für das letzte Jahrhundert.
Dabei geht es nicht um die Qualität oder die Menge des Öls in der iranischen
Wirtschaft. Der springende Punkt ist, dass das Öl in einem Land wie dem Iran,
das landwirtschaftlich organisiert war, die ökonomische Infrastruktur geändert
hatte, womit der Iran auch international eine grosse Bedeutung bekam. Er wurde
zum Exporteur eines hochgeschätzten Rohmaterials und erhielt im Gegenzug Güter
aus der Überschussproduktion der Industrieländer.
Dieser Wandel verändert die sozio-ökonomische Infrastruktur, was wiederum zu
einem Bruch mit der traditionellen Kultur führt und diese durch eine modernere
ersetzt, die auf dem Export von Öl und dem Konsum der Produkte der
Industrieländer beruht. Wenn wir das Geld, als symbolisches Medium, ausser
Betracht lassen, dann haben wir Öl im Austausch für Konsumprodukte gegeben. Aber
Afghanistan hat nichts ausser den Drogen, um es auf dem Weltmarkt zu tauschen.
Deshalb hat es sich auf sich selbst zurückgezogen und wurde so isoliert.
Vielleicht hätte Afghanistan, wenn es sich vor 250 Jahren nicht vom Iran
getrennt hätte, auf der Grundlage seines Anteils am Öleinkommen ein anderes
Schicksal gehabt. Die Menge an Opium, ich werde das später noch genauer
erklären, ist im Vergleich zum iranischen Öl viel zu unbedeutend. Irans
Einnahmeüberfluss aus dem Öl beträgt über 10 Milliarden Dollar. Die
Gesamteinnahmen aus den Opiumverkäufen Afghanistans blieben bei 500 Millionen
Dollar.
 
Wir haben in der Weltwirtschaft unsere Rolle gespielt, und durch den Konsum der
Produkte anderer Länder haben wir verstanden, dass wir Wahlmöglichkeiten haben;
und so wurden wir etwas moderner. Aber die Welt des afghanischen Bauern ist sein
Tal, und sein Beruf ist die Landwirtschaft, wenn er von der Trockenheit
verschont wird. Währenddessen löst das Stammessystem seine sozialen Probleme.
Unter diesen Voraussetzungen kann er keinen Anteil an der Weltwirtschaft haben.
Wo also sind die Grundlagen, die zu einer ökonomischen und kulturellen
Veränderung führen könnten, so dass er einen Anteil haben könnte? Kommt noch
hinzu, dass die 80 Milliarden Dollar Gewinn im globalen Drogengeschäft darauf
beruhen, dass Afghanistan in seiner momentanen Lage verbleibt; denn wenn sich
diese Lage verändern würde, wären zuerst diese 80 Milliarden Dollar bedroht.
Daher darf Afghanistan selbst auch keinen beträchtlichen Gewinn mit dem
Drogengeschäft machen, da selbst dieser Profit zu Veränderungen in Afghanistan
führen könnte.
 
Obwohl der Iran und Afghanistan vor 250 Jahren dieselbe Geschichte teilten, nahm
die Geschichte Irans durch das Öl eine andere Richtung, eine Richtung, die
Afghanistan noch für lange Zeit verwehrt bleiben wird. Opium ist das einzige
Produkt, das Afghanistan der Welt anbietet. Aber aufgrund der Natur dieses
Produkts und der unbedeutenden Menge dieses schmutzigen nationalen Wohlstands
kann es nicht mit Öl verglichen werden. Wenn wir zu dem Einkommen von 500
Millionen Dollar aus dem Verkauf von Opium noch die 300 Millionen Dollar aus dem
Verkauf des Gases in Nordafghanistan hinzuziehen und die erhaltene Summe durch
die Anzahl der Afghanen teilen, dann kommen wir auf ein jährliches
Pro-Kopf-Einkommen von 20 Dollar. Teilen wir diese 20 Dollar noch durch die 365
Tage des Jahres, dann verdient jeder Afghane 10 Cents pro Tag, was zu normalen
Zeiten ungefähr einem Laib Brot entspricht.
 
Aber die jährlichen Einkommen des Landes gehören der Regierung und der
landeseigenen Mafia, und es wird nicht gerecht aufgeteilt. Dieses Einkommen ist
zu gering, um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, und zu niedrig, um
zu bedeutenden Änderungen in der ökonomischen, sozialen, politischen und
kulturellen Infrastruktur zu führen.
 
Warum sind 30% der Bevölkerung ausgewandert?
 
Viehzüchter ziehen umher, um ihre Lebensgrundlage zu erhalten. Es ist viel
unwahrscheinlicher, dass Städter oder Ackerbauern umherziehen. Der Hauptgrund
für das Nomadentum der afghanischen Viehzüchter sind die Jahreszeiten. Sie
ziehen ständig in grüne und warme Gegenden, um Trockenheit und kaltes Wetter zu
vermeiden. Bewegung ist ein natürlicher Reflex für Viehzüchter. Der zweite Grund
ist das Fehlen einer festen Arbeit. Die Afghanen ziehen umher, um die
Arbeitslosigkeit zu vermeiden.
 
Die täglichen Einnahmen eines Afghanen beruhen auf Arbeiten in den
Nachbarländern. Morgens beim Aufstehen hat ein Afghane vier Pflichten vor sich:
die erste ist die Erhaltung seines Viehbestands, wozu er ausgetrocknete Gebiete
vermeiden muss. Der Kampf für seine Gruppe oder Glaubensgemeinschaft ist die
zweite Pflicht. Wegen der Arbeitslosigkeit wird er zum Mitglied einer
Kampfgruppe. Der Lebensunterhalt für seine Familie ist ein weiterer Grund, warum
er umherzieht. Wenn alles andere fehlschlägt, widmet er sich dem Drogenhandel.
Die Möglichkeiten im Drogengeschäft sind beschränkt, und die
Arbeitsmöglichkeiten einer Nation von 20 Millionen Menschen kann nicht an den
500 Millionen Dollar gemessen werden, welche die Aussaat von Mohnsamen
einbringt. Folglich ist die Charakterisierung des afghanischen Volkes als
Opiumschmuggler unrealistisch und nur für eine kleine Zahl zutreffend.
Die afghanische Kultur wurde gegen den Modernismus immunisiert
Amanullah Khan, der in Afghanistan von 1919 bis 1928 herrschte, war ein
Zeitgenosse von Resa Schah und Kemal Atatürk. Persönlich war er dem westlichen
Modernismus zugeneigt. Im Jahr 1924 bereiste Amanullah Europa, kam mit einem
Rolls Royce zurück und machte sein Reformprogramm bekannt. Die Änderungen
beinhalteten auch die äussere Erscheinung. Er befahl seiner Frau, den Schleier
abzulegen, und verlangte von den Männern, ihre afghanische Kleidung durch
westliche Anzüge zu ersetzen. Entgegen der afghanischen Tradition verbot er die
Polygamie. Traditionalisten widersetzten sich sofort den Modernisierungen des
Amanullah. Keiner der afghanischen Stämme unterwarf sich diesen Veränderungen,
und es kam zu Aufständen gegen ihn.
 
Hier haben wir einen Modernismus, der jeder sozio-ökonomischen Grundlage
entbehrt. Er ist nichts anderes als der unangemessene Versuch, eine Kultur über
eine Stammesgesellschaft überzustülpen, die von der Landwirtschaft abhängig ist.
Jegliche Industrie fehlt, nur die Landwirtschaft oder gar Vorstufen der
Landwirtschaft existieren und das Verbot der Heirat zwischen den Stämmen. Dieser
oberflächliche, formalistische und belanglose Modernismus regte nur die
Entwicklung von Antikörpern im Körper der traditionellen afghanischen Kultur an
und machte so Afghanistan immun gegen die Modernisierung. In den folgenden
Jahrzehnten konnte selbst ein rationalerer Modernismus die Kultur nicht
durchdringen.
 
Bis heute sind die Voraussetzungen für einen Modernismus, die Ausbeutung von
Ressourcen und das Angebot von billigen Rohmaterialien im Austausch für Güter,
nicht gegeben. Selbst die fortschrittlichsten Menschen in Afghanistan glauben,
dass die Frauen noch nicht reif für das Wahlrecht sind. Wenn selbst die
fortschrittlichsten Glaubensgemeinschaften, die an dem Bürgerkrieg teilnehmen,
es zu früh finden, dass Frauen wählen, dann ist es klar, dass die
konservativsten ihnen die Schulen und soziale Aktivitäten verbieten. Daraus
folgt fast zwangsläufig, dass 10 Millionen Frauen unter ihren Burkas
gefangengehalten werden.
 
Dies ist die afghanische Gesellschaft 70 Jahre nach dem Modernismus des
Amanullah, der beabsichtigte, dem männlich dominierten Afghanistan, dessen
Vorstellung von Familie nur den Harem kennt, die Monogamie aufzuerlegen. Im Jahr
2001 wird die Polygamie immer noch von den Frauen akzeptiert, selbst in den
Flüchtlingslagern an der iranisch-afghanischen Grenze. Ich nahm an zwei
Hochzeiten unter Paschtunen und Hasaras teil und hörte, wie sie dem Bräutigam
weitere einträgliche Hochzeiten wünschten. Zuerst dachte ich, es handele sich um
einen Witz. In einem anderem Fall sagte die Familie der Braut: «Wenn es sich der
Bräutigam leisten kann, dann ist es wirklich gut, bis zu 4 Frauen zu haben. Es
ist eine religiöse Tradition, und es hilft einem Haufen hungriger Menschen.»
Als ich zu dem Lager Saveh ging, um die Hochzeitsmusik für Kandahar aufzunehmen,
sah ich, wie ein zweijähriges Mädchen mit einem siebenjährigen Jungen
verheiratet wurde. Ich verstand die Bedeutung davon nicht. Ebensowenig konnten
der Junge und das Mädchen, das an einem Schnuller saugte, eine Wahl getroffen
haben. Bei diesem Portrait einer traditionellen Gesellschaft erscheint der
Modernismus des Amanullah nur als eine übergestülpte Imitation eines anderen
Landes.
 
Selbstverständlich gibt es einige Menschen, die glauben, dass eine Frau, die
ihre Burka mit einem weniger verhüllenden Kleidung tauscht, von Gottes Fluch
getroffen wird und in einen schwarzen Stein verwandelt wird. Vielleicht muss sie
jemand mit Zwang von ihrer Burka befreien, damit sie bemerkt, dass diese Annahme
falsch ist und sie selber die Wahl hat.
 
Es gibt eine andere verzerrte Betrachtungsweise des Modernismus'''' Amanullahs. In
traditionellen Gesellschaften ist die Kultur der Heuchelei eine Art der
Klassencamouflage. In der iranischen Gesellschaft schmük- ken die wohlhabenden
traditionellen Familien das Innere ihrer Häuser wie ein Schloss, tarnen das
Äussere aber als Schuppen, aus Angst vor den Armen. Mit anderen Worten, der
aristokratische Kern muss eine arme rustikale Schale haben.
 
Opposition gegen den Modernismus entspringt nicht unbedingt den traditionellen
Organisationen. Manchmal ist es auch eine Reaktion der Armen gegen die Reichen.
Für die arme Gesellschaft zur Zeit des Amanullah galt der Besitz von Pferden
anstelle von Mulis als Symbol für Ehre und Nobilität. Ein Rolls Royce war eine
Beleidigung gegen-über den Armen. Der Krieg zwischen der Tradition und dem
Modernismus ist grundsätzlich dasselbe wie die Schlacht zwischen dem Rolls Royce
und den Mulis. Es ist ein Krieg zwischen Armut und Reichtum.sind die einzigen modernen Objekte in Afghanistan Waffen. Der
allgegenwärtige Bürgerkrieg ist nicht nur eine politisch-militärische Aktion,
sondern er hat auch Arbeit geschaffen und schuf ausserdem einen Markt für
moderne Waffen. Afghanistan kann nicht mehr mit Messern und Dolchen kämpfen,
obwohl es hinter der Moderne zurückgeblieben ist. Der Verbrauch von Waffen ist
eine ernste Angelegenheit. Stinger-Raketen neben langen Bärten und Burkas sind
Symbole eines tiefen Modernismus, die direkt zum Konsum und zur modernen Kultur
passen.
 
Für den afghanischen Mudschahedin bilden die Waffen eine ökonomische Basis, die
Arbeit(splätze) erzeugt. Wenn alle Waffen aus Afghanistan entfernt würden, wäre
der Krieg zu Ende, und alle würden akzeptieren, dass es keine Anschläge mehr auf
jemanden gäbe, und die Mudschahedin müssten sich unter den schlechten
ökonomischen Bedingungen den Flüchtlingen in anderen Ländern anschliessen. Die
Frage nach Tradition und Modernismus, nach Krieg und Frieden, Stammeswesen und
Nationalismus in Afghanistan muss mit einem Blick auf die wirtschaftliche
Situation und die Beschäftigungskrise analysiert werden. Es muss verstanden
werden, dass es keine unmittelbare Lösung für die ökonomische Krise in
Afghanistan gibt.
 
Eine Langzeitlösung wäre nur durch ein ökonomisches Wunder möglich, sicher nicht
durch eine nationale militärische Attacke vom Norden in den Süden oder
umgekehrt. Sind solche Wunder nicht ab und zu geschehen? War der Rückzug der
Russen nicht ein Wunder? War die Souveränität der Mudschahedin nicht ein Wunder
für sie? War die plötzliche Eroberung durch die Taliban nicht ein Wunder ganz
eigener Art? Warum bleiben dann Probleme bestehen? Der Modernismus, wie ich ihn
hier diskutiert habe, sieht sich zwei grundlegenden Problemen gegenüber: Das
eine wurzelt in der Ökonomie, und das zweite ist die Immunisierung der
traditionellen afghanischen Kultur gegen einen frühreifen Modernismus.
Die geographische Situation und ihre Konsequenzen
Afghanistan ist 700000 Quadratkilometer gross. 75% der Landesoberfläche sind
Berge. Die Menschen leben in kavernenartigen Tälern, die umringt sind von sich
auftürmenden Bergen. Diese Anhöhen zeugen nicht nur von einer rauhen Natur,
schwierigen Passagen und Hindernissen für Geschäfte, sie werden auch als
kulturelle und spirituelle Befestigungen zwischen den afghanischen Stämmen
angesehen. Es ist offensichtlich, warum es Afghanistan an innerstaatlichen
Strassen mangelt. Der Mangel an Strassen behindert nicht nur eine kriegerische
Besetzung Afghanistans, er hält auch Geschäftsleute auf, deren Wohlergehen ein
Motor des wirtschaftlichen Wachstums sein könnte und was auch zum Bau von
Strassen führen könnte.
Im selben Ausmass, wie diese Berge fremdes Eindringen behindern, blockieren sie
auch den Austausch mit anderen Kulturen und geschäftliche Aktivitäten. Ein Land,
das zu 75% aus Bergen besteht, hat Probleme damit, Konsummärkte in seinen
potentiellen Industriestädten zu schaffen und landwirtschaftliche Produkte in
die Städte zu bringen. Trotz des Gebrauchs moderner Waffen dauern Kriege länger
und führen zu keiner Lösung.
 
In der Vergangenheit war Afghanistan ein Durchgangsland für Karawanen auf der
Seidenstrasse nach China über Balkh und nach Indien durch Kandahar. Die
Entdeckung der Wasserwege und danach der Luftwege im letzten Jahrhundert
verwandelte Afghanistan von einer alten Handelsroute in eine Sackgasse. Die alte
Seidenstrasse war ein Durchgang für Kamele und Pferde und hatte nicht die
Qualitäten einer modernen Strasse. Über die selben gewundenen Wege zogen Nadir
Schah, Alexander der Grosse, Timur und Mahmmud Ghaznavi nach Indien. Wegen des
bergigen Charakters dieser Strassen gab es dort primitive hölzerne Brücken, die
in den letzten 20 Jahren des Krieges schwer beschädigt worden sind.
Vielleicht wollen die Leute heute, nach zwei Jahrzehnten Krieg durch fremde
Mächte und des Bürgerkriegs, dass die stärkste Partei gewinnt und dem
historischen Schicksal Afghanistans eine einheitliche Richtung gibt, egal, was
für eine. Vielleicht sind die wahren Kämpfer Afghanistans nicht die hungrige
Bevölkerung, sondern die hohen Berge, die nie aufgeben. Der tadschikische
Widerstand, von Ahmed Massud angeführt, verdankt sein Überleben dem
Panjshir-Tal. Wenn Afghanistan nicht gebirgig wäre, hätten die Sowjets es leicht
erobern können; oder es hätte leicht den Amerikanern als Beute dienen können,
wie die Ebenen von Kuwait; so kämen sie näher zu den Märkten Zentralasiens.
Ist das Land gebirgig, spiegelt sich dies später in den Kosten des Krieges und
des Wiederaufbaus wider. Wenn Afghanistan nicht so zerklüftet wäre, hätte es ein
anderes wirtschaftliches, militärisches, politisches und kulturelles Schicksal
gehabt. Ist dies ein geographisches Unglück? Stellen Sie sich einen Krieger vor,
der ständig Berge hinauf- und hinunterklettern muss. Nehmen Sie an, er erobert
ganz Afghanistan. Er muss dann die Berggipfel dauernd besetzt halten, damit
seine Armee gesichert ist. Diese Berge haben gereicht, um Afghanistan vor
fremden Feinden und vor einheimischen Freunden zu schützen.
 
Wenn Sie den sowjetisch-afghanischen Krieg betrachten, sehen Sie den Widerstand
einer Nation, aber von innen betrachtet realisieren Sie, dass jeder Stamm sein
eigenes Tal, in dem er gefangen ist, verteidigt hat. Als der Feind abgezogen
war, sah jeder sein Tal wieder als Mittelpunkt der Welt an. Und dieselben Berge
machen auch die Landwirtschaft sehr schwierig. Nur 15% des Landes sind geeignet
für Landwirtschaft, und praktisch die Hälfte davon ist tatsächlich kultiviert.
Viehwirtschaft wird betrieben wegen der kargen Weiden an den Hängen der Berge
und ihrer Umgebung.
 
Man kann sagen, dass Afghanistan ein Opfer seiner eigenen Topographie ist. Es
gibt keine Strassen in den Bergen und der Strassenbau ist teuer. Wenn es
Strassen gibt, sind es militärische oder enge Pfade für Schmuggler. Die einzige
durchgehende Strasse verläuft entlang der Grenze. Wie kann eine Grenzstrasse als
Lebensader im Körper Afghanistans dienen und die Probleme der sozialen,
kulturellen und wirtschaftlichen Kommunikation lösen? Die wenigen Strassen
zwischen den Provinzen sind im Krieg zerstört worden. Wer würde aus ihnen
genügend Vorteil ziehen, um die enormen Kosten des Strassenbaus durch diese
rauhen und hohen Berge zu zahlen. Für welchen möglichen Gewinn sollen diese
exorbitanten Kosten getragen werden?
 
Man sagt, dass Afghanistan voll von unerforschten Minen ist. Auf welchen Wegen
können diese eventuell abbaubaren Bodenschätze aus den Minen zu den Märkten
transportiert werden? Wer wird der erste sein, der in Minen investiert, die in
einer unsicheren Zukunft Gewinne bringen sollen? Verhinderte der Mangel an
Strassen, dass die Sowjets und Afghanen nicht einmal daran dachten, die Minen
auszubeuten?
 
Andererseits ist Afghanistan das Land der seit Ewigkeiten versteckten Pfade, die
für den Drogenschmuggel geeignet sind. Es gibt so viele gewundene Pfade, wie man
sich für den Drogenschmuggel wünscht, aber um die Schmugglerringe zu
zerschlagen, braucht man ja Strassen, die jedoch nicht existieren. Man kann die
unendliche Zahl der Pfade nicht kennen, und man kann nicht jeden Tag einen Pfad
angreifen. Zumindest ist es möglich, einer Karawane an einer Weggabelung
aufzuwarten. Bei der Stadt Semnan im Iran wurde ein Schmuggler verhaftet, der
barfuss von Kandahar her kam und einen Sack Drogen trug. Er hatte keine Haut
mehr an den Fusssohlen, als er verhaftet wurde, aber er hatte nicht aufgehört zu
gehen.
 
In den Bergen von Afghanistan ist das Wasser mehr eine Katastrophe als ein
Segen. Im Winter friert es, im Frühling wird es zur Flut, und im Sommer führt
sein Mangel zur Trockenheit. Das ist die Eigenschaft von Bergen ohne Dämme.
Unkontrolliertes Wasser und ein harter Erdboden verringern die Möglichkeit,
Landwirtschaft zu betreiben. Das ist das geographische Bild von Afghanistan:
mühsam zu durchqueren, unfähig zu kultivieren und Minen, die wegen der
Transportkosten nicht auszubeuten sind.
 
Manche finden, Afghanistan sei ein Museum von Stämmen, Rassen und Sprachen. Dies
ist in seiner Geographie und deren Problematik begründet. Jede Tradition dieses
Landes ist aufgrund der Isolation und des fehlenden Austauschs intakt geblieben.
Es ist nur natürlich, in diesem rauhen und trockenen Land (von dem nur 7% für
Landwirtschaft benutzt werden und wovon die Hälfte von Dürre bedroht ist) zur
Kultivierung von Mohnsamen überzugehen, um die Bevölkerung zu ernähren. Wenn die
Bedingungen normal sind und der Preis des Brotes wegen des Mohn-Wohlstandes
nicht steigt, ist ein einziger Laib Brot alles, was jeder Afghane erhält.
Im jetzigen Zustand kann die afghanische Wirtschaft ihre Bevölkerung halbwegs
erhalten, allerdings ohne jede wirtschaftliche Entwicklung. Der Wohlstand jedoch
bleibt bei der einheimischen Mafia oder wird für instabile afghanische Regimes
ausgegeben, und die Bevölkerung hat keinen Anteil daran.
 
Die grundlegende Frage stellt sich also: Wovon lebt die afghanische Bevölkerung?
Entweder von Bauarbeiten im Iran, von der Teilnahme an politischen Kriegen oder
indem man Theologiestudent in einer Taliban-Schule wird. Gemäss der Statistik
ziehen über 2500 Talibanschulen mit einer Kapazität von 300 bis 1000 Studenten
hungrige Waisen an. In diesen Schulen kann jeder ein Stück Brot und einen Teller
Suppe bekommen und den Koran lesen, Gebete auswendig lernen und sich später den
Taliban-Streitkräften anschliessen. Dies ist die einzige verbleibende
Möglichkeit, eine Arbeit zu finden.
 
Es ist das Resultat der geographischen Gegebenheiten, dass Emigration, Schmuggel
und Krieg als Beschäftigungen übrig bleiben, und ich frage mich, wie Massud nach
einem möglichen Sieg über die Taliban die Bedürfnisse der Bevölkerung
befriedigen wird? [Massud ist unterdessen ermordet worden. Anmerkung der
Redaktion] Wird es durch einen dauernden Krieg sein oder durch die Entwicklung
des Mohnanbaus oder durch Gebete für Regen?
 
An der iranischen Grenze bezahlt die Uno jedem Afghanen 20 Dollar, der nach
Afghanistan zurückkehren will. Die afghanischen Arbeiter werden mit dem Bus in
die ersten Städte Afghanistans gefahren oder an den Grenzen hinausgelassen.
Interessanterweise kommen die Afghanen wegen des Mangels an Arbeitsmöglichkeiten
in Afghanistan schnell wieder zurück, und wenn sie nicht erkannt werden, stellen
sie sich in der Schlange wieder an, um nochmals 20 Dollar zu erhalten. Die
arbeitslosen Afghanen nutzen jede Möglichkeit, um eine Beschäftigung zu finden.
Insofern kann der Krieg ein Beruf sein; sind doch relativ wenige afghanische
Führer bei der Ausübung des Kriegerberufs umgekommen.
 
Ein andauernder Krieg ermöglicht es den USA, den Sowjets und den sechs
Nachbarstaaten, diejenigen Kräfte zu unterstützen, die ihnen loyal ergeben sind.
Diese Hilfe zielt normalerweise darauf ab, den Krieg zu verlängern oder ein
Machtgleichgewicht zu halten, aber im Fall Afghanistans dient sie nur der
Arbeitsbeschaffung. Vergessen wir nicht, dass eine zweijährige Dürre geherrscht
hat und Vieh deswegen gestorben ist. Die Uno hat den Tod von einer Million
Menschen in den nächsten paar Monaten vorhergesagt. Der Krieg hat damit nichts
zu tun. Es ist die Armut und die Hungersnot. Immer wenn die Landwirtschaft durch
den Wassermangel bedroht gewesen ist, ist die Emigrationsrate angestiegen, und
die Kriege sind schlimmer geworden.
 
Die durchnittliche Lebenserwartung eines Afghanen liegt bei 41,5 Jahren, und die
Sterblichkeitsrate für Kinder unter zwei Jahren lag zwischen 182 und 200
Todesfällen pro 1000 Kinder. Die durchschnittliche Lebenserwartung war im Jahr
1960 34 Jahre und im Jahr 2000 waren es 41 Jahre. Die Realität ist aber, dass in
den letzten Jahren die Lebenserwartung unter die aus dem Jahr 1960 gesunken ist.
Ich werde diese Nächte des Filmens in Kandahar nie vergessen. Während unser Team
die Wüste mit Scheinwerferlicht absuchte, sahen wir sterbende Flüchtlinge wie
Herden von Schafen in der Wüste liegen. Als wir diejenigen in Spitäler nach
Zabol mitnahmen, von denen wir dachten, sie stürben an Cholera, realisierten
wir, dass sie vor Hunger starben. Seit diesen Tagen und Nächten, als wir so
viele Menschen zu Tode hungern sahen, konnte ich mir nicht mehr verzeihen, ganze
Mahlzeiten zu essen.
 
Zwischen 1986 und 1989 hatten die Afghanen etwa 22 Millionen Schafe. Das ist ein
Schaf pro Person. Das war traditionellerweise der Hauptreichtum einer
Landwirtschaft betreibenden Nation wie Afghanistan. Dieser Reichtum ging in der
letzten Hungersnot verloren. Stellen Sie sich die Situation einer Landwirtschaft
betreibenden Nation ohne Vieh vor! Der Ursprung der Tragödie in Afghanistan ist
heute die Armut, und der einzige Weg, die Probleme zu lösen, ist eine
wirtschaftliche Erholung.
 
Wenn ich die Mudjahedin unterstützt hätte statt der wahren Freiheitskämpfer, die
gewöhnliche Leute sind, die kämpfen, um am Leben zu bleiben, wäre ich
zurückgekommen. Wenn ich der Präsident eines Nachbarlandes wäre, würde ich
wirtschaftliche Beziehungen mit Afghanistan aufnehmen statt
politisch-militärischer Interventionen. Gott verzeihe mir, aber wenn ich an
seiner Stelle wäre, dann würde ich Afghanistan mit etwas segnen, was dieser
gottvergessenen Nation nützen würde. Und ich schreibe dies, ohne zu glauben,
dass es eine Wirkung in dieser Zeit haben wird; einer Zeit, die so anders ist
wie die Sadis, in der noch «alle Menschen Glieder eines Körpers» waren.
Dr. Kamal Hussein, der humanitäre Berater der Uno für
Afghanistan-Angelegenheiten aus Bangladesh, besuchte unser Büro im Sommer 2000
und erzählte uns, dass er seit 10 Jahren vergeblich der Uno berichtet! Er kam,
um mir bei der Erstellung eines Filmes beizustehen, der vielleicht die Welt
aufwecken würde. Ich sagte: «Ich suche nach dem, was dies bewirken kann.»
Es muss hinzugefügt werden, dass Afghanistan nicht so sehr unter der
ausländischen Einmischung gelitten hat als unter der Gleichgültigkeit. Wenn
Afghanistan Kuwait gewesen wäre mit einem Überschuss an Öleinkommen, wäre die
Geschichte anders gelaufen. Aber Afghanistan hat kein Öl, und die Nachbarstaaten
berauben es seiner unterbezahlten Arbeiter. Wenn alle Versuche, Arbeit zu
finden, scheitern, wie weiter oben im Text erklärt wurde, dann bleibt nur noch
die Wahl zu schmuggeln, sich den Taliban anzuschliessen oder in einer Ecke in
Herat, Bamian, Kabul oder Kandahar zu Boden zu fallen und wegen der
Gleichgültigkeit der Welt zu sterben.
 
Einmal war ich in einem Lager in Zabol (Iran), das mit illegalen Einwanderern
gefüllt war. Ich war nicht sicher, ob es ein Lager oder ein Gefängnis war. Den
Afghanen, die wegen der Hungersnot oder Anschlägen der Taliban von zu Hause
geflüchtet waren, wurde das Asyl verwehrt, und sie mussten warten, um nach
Afghanistan zurückgeschickt zu werden. All dies schien so weit legal und
rational. Menschen, die aus irgendeinem Grund illegal in ein Land kommen und
nachher zurückgewiesen werden, werden deportiert. Aber diese Menschen hier
starben vor Hunger! Wir waren dort hingekommen, um Statisten für meinen Film zu
finden. Ich fragte die zuständigen Lagerverwalter und fand heraus, dass das
Lager sich nicht leisten konnte, so viele Menschen zu ernähren, und dass sie
seit einer Woche nichts gegessen hatten. Sie hatten nur Wasser zu trinken. Wir
boten an, für Mahlzeiten zu sorgen. Sie wünschten, wir würden jeden Tag kommen.
Wir brachten Essen für 400 Afghanen, für einen Monat alte Babys bis zu
80jährigen Männern. Die meisten der 400 waren kleine Kinder, die in den Armen
ihrer Mutter vor Hunger ohnmächtig wurden. Eine Stunde lang verteilten wir
weinend Brot und Früchte. Die Lagerverwalter drückten ihren Kummer und ihr
Bedauern aus und sagten, dass es lange brauche, dass dem Budget zugestimmt
werde, und dass die Flut hungriger Flüchtlinge weit grösser sei, als alles, was
sie bewältigen könnten. Das ist die Geschichte eines Landes, das von seiner
eigenen Natur, seiner Geschichte, seiner Wirtschaft, seiner Politik und der
Unfreundlichkeit seiner Nachbarn verwüstet worden ist.
Ein afghanischer Dichter, der vom Iran nach Afghanistan zurückdeportiert worden
war, drückte sein Empfinden in einem Gedicht aus:
 
Ich kam zu Fuss, ich geh zu Fuss.

Der Fremde ohne Geld im Beutel muss gehen.

Und das Kind, das ohne Puppen spielt, muss gehen.

Und der Zauber meines Exils, heute nacht wird er gebrochen.

Und der Tisch, der immer leere, wird zusammengelegt.
 
Voller Leid wanderte ich über die Horizonte.
 
Ich bin es, den wandernd alle sahen.
 
Was ich nicht habe, lege ich nieder, und ich muss gehen.
 
Ich kam zu Fuss, ich geh zu Fuss.
 
Das Verhältnis des Drogenkonsums auf der Welt zur Produktion in Afghanistan
Gemäss dem Uno-Bericht von 2000 konsumierten in den späten 90er Jahren weltweit
etwa 180 Millionen Menschen Drogen. Gestützt auf den gleichen Bericht werden 90%
des illegalen Opiums wie auch 80% des Heroins in zwei Ländern produziert, wovon
das eine Afghanistan ist. 50% aller Rauschgifte werden in Afghanistan
produziert. Sie mögen denken, wenn 50% eine halbe Milliarde Dollar wert ist,
macht der Gesamtwert aller Drogen weltweit eine Milliarde Dollar aus, aber dies
ist nicht der Fall. Warum?
 
Obschon Afghanistan eine halbe Milliarde Dollar an der Drogenproduktion
verdient, ist der wirkliche Gewinn nur 80 Millionen Dollar. Auf seinem Transit
durch den Rest der Welt steigt der Wert der Droge um das 160fache. Wer erhält
die 80 Millionen Dollar?<br>
Heroin zum Beispiel kommt zu einem bestimmten Preis nach Tadschikistan und
verlässt das Land zum doppelten Preis. Dasselbe gilt für Usbekistan. Wenn die
Drogen die Konsumenten in Holland erreichen, kosten sie 160 bis 200mal mehr als
der ursprüngliche Preis. Das Geld landet bei den verschiedenen Mafias, die auch
die Politik der Länder entlang der Route manipulieren.
 
Das geheime Budget vieler zentralasiatischer Staaten wird vom Drogenhandel
genährt, wie können da die Schmuggler, die den ganzen Weg von Kandahar kommen,
die wahren Nutzniesser dieses Wohlstandes sein? Können wir sie überhaupt als die
wahren Drogenschmuggler ansehen?
 
Wenn die Drogenprofite nicht so hoch wären, könnte der Iran zum Beispiel Weizen
im Wert von einer halben Milliarde Dollar für Afghanistan bestellen, als Anreiz,
den Anbau von Mohn zu stoppen. Doch der Profit von 79,5 Millionen Dollar ist
viel zu wertvoll für den Mob und seine Verbündeten, um die Mohnsamen
wegzuwerfen. Ironischerweise ist der afghanische Drogenproduzent selbst kein
Konsument von Drogen. Der Konsum von Drogen ist verboten, aber die Produktion
ist erlaubt. Die religiöse Rechtfertigung ist, den Feinden des Islams in Amerika
und Europa tödliche Gifte zu schicken. Diese Argumentation ist in Anbetracht der
ökonomischen Bedeutung, die die Drogen für das Regierungs-Budget von Afghanistan
haben, ziemlich paradox und unglaubwürdig.
 
Auf der Welt werden insgesamt Drogen im Wert von 400 Milliarden Dollar
umgeschlagen, und die Afghanen sind die Opfer dieses Markts. Warum ist
Afghanistans Anteil an dieser Summe nur 1/800? Was immer die Antwort ist, der
Markt braucht einen Ort mit einer schwachen Staatsmacht, der aber ein Füllhorn
der Drogenproduktion ist. Gäbe es in Afghanistan Strassen an Stelle der
zwielichtigen Pfade, oder hörte der Krieg auf und die Wirtschaft finge an zu
blühen, und ersetzten andere Anreize die halbe Milliarde Dollar, was geschähe
dann mit dem 400 Milliarden-Markt?
 
Als ich im September 2000 von Kandahar zurückkehrte, sah ich den Gouverneur von
Khorasan auf dem Weg nach Teheran. Er sagte, wenn das Opium in Herat 50 Dollar
kostet, kostet es in Mashad 250 Dollar. Und wenn der Kampf gegen die Schmuggler
stärker würde, würde das Opium statt teurer billiger werden. Wenn es zum
Beispiel in Mashad 500 Dollar kostet, kostet es 75 Dollar in Herat. Der Grund
ist die extreme Armut und die Hungersnot. Das afghanische Schaf, das pro Stück
20 Dollar gekostet hatte, wird nun an der Grenze für einen Dollar verkauft, aber
weil die Schafe krank sind, gibt es keinen Markt, und die Grenzen werden
kontrolliert, damit keine Schafe nach Iran geschmuggelt werden können.
Obschon Mohnsamen nicht die grundlegende Bedeutung als Quelle für den
afghanischen Wohlstand haben wie es Öl hätte, ist es irgendwie vergleichbar mit
Öl. Wichtiger noch ist, dass das geheime Budget der zentralasiatischen Staaten
durch die Drogen genährt wird. Das erklärt das enorme Interesse der Welt,
gegenüber der chronischen wirtschaftlichen Situation Afghanistans gleichgültig
zu bleiben. Wozu sollte Afghanistan stabil werden? Welche Möglichkeiten hat es,
die 80 Millionen Dollar, die direkt aus seinem Erdboden gewonnen werden, zu
kompensieren?
 
Drogen sind für viele ein interessantes Geschäft. Erst vor wenigen Monaten, als
ich in Afghanistan war, sagte man, dass jeden Tag ein Flugzeug voller Drogen
direkt von Afghanistan in die Golf-Staaten fliegt. Im Jahr 1986, als ich
recherchierte, um den Film «Der Radfahrer» (The Cyclist) zu drehen, reiste ich
von Mirjaveh in Pakistan nach Quetta und Peshawar. Es dauerte ein paar Tage. Als
ich in Mirjaveh ankam, bestieg ich einen farbigen Bus der gleichen Art, wie Sie
ihn vielleicht im «Cyclist» gesehen haben. Der Bus war mit den verschiedensten
seltsam aussehenden Menschen gefüllt. Menschen mit langen, dünnen Bärten,
Turbanen auf dem Kopf und langen Kleidern.
 
Zuerst merkte ich nicht, dass das Busdach mit Drogen angefüllt war. Der Bus fuhr
durch unwirtliches Gelände ohne Strassen. Überall lag Staub, und die Räder
sanken im weichen Untergrund ein. Wir erreichten ein surreal anmutendes Tor, wie
diejenigen in den Gemälden von Dali. Es war ein Tor, das weder etwas von etwas
anderem trennte noch etwas mit etwas anderem verband. Es war nur ein imaginäres
Tor, das sich mitten in der Wüste erhob. Der Bus stoppte am Tor. Dann erschien
eine Gruppe von Fahrradfahrern, die unseren Fahrer baten, auszusteigen. Sie
unterhielten sich ein wenig und brachten dann einen Sack mit Geld und zählten
dieses mit dem Fahrer. Zwei der Fahrradfahrer kamen und übernahmen unseren Bus.
Unser Fahrer und sein Assistent nahmen das Geld und fuhren auf den Rädern fort.
Der neue Fahrer kündigte an, dass er nun der neue Besitzer des Busses und von
allem, was sich in ihm befinde, sei. Wir fanden heraus, dass wir zusammen mit
dem Bus verkauft worden waren.
 
Dieser Handel wurde alle paar Stunden wiederholt, und wir wurden an mehrere
Schmuggler verkauft. Wir fanden heraus, dass eine bestimmte Partei einen anderen
Abschnitt der Strasse kontrollierte, und jedes Mal, wenn der Bus verkauft wurde,
erhöhte sich der Preis. Zuerst war es ein Sack Geld, dann stieg er auf zwei und
zum Schluss auf drei. Es gab auch Karawanen, die schwere Dushka Maschinengewehre
auf dem Rücken ihrer Kamele trugen. Wenn man unseren Bus und die Gewehre auf dem
Kamelrücken wegdachte, hätte man sich in den primitiven Tiefen der Geschichte
befunden. Wieder erreichten wir Orte, wo Gewehre verkauft wurden. Kugeln wurden
in Säcken verkauft, als wenn es sich um Bohnen gehandelt hätte. Kilos von Kugeln
wurden abgewogen und ausgetauscht. Wie würde der Drogenhandel der Welt
stattfinden, wenn solche Örtlichkeiten nicht existierten?
 
Ich war nach Khorasan gegangen und schaute mich an der Grenze nach einer
Landschaft zum Filmen um. Bei Sonnenuntergang wurden die Dörfer an der Grenze
evakuiert. Die Bewohner flohen aus Angst vor den Schmugglern in andere Dörfer.
Auch wir wurden gedrängt zu fliehen. Gerüchte über die Unsicherheit der Gegend
waren so weit verbreitet, dass nur wenige Autos nach Sonnenuntergang
vobeifuhren. In der Dunkelheit der Nacht war die Strasse für den Durchgang der
Schmugglerkarawanen da. Gemäss Zeugen bestanden die Karawanen aus Gruppen von
fünf bis zu 100 Leuten. Ihr Alter erstreckt sich von 12 bis 30 Jahren. Jeder
trägt einen Sack Drogen auf seinem Rücken, und manche tragen Raketenwerfer und
Kalaschnikows, um die Karawane zu beschützen.
 
Wenn die Drogen nicht mit Flugzeugen weggeflogen werden, werden sie in
Containern transportiert oder von menschlichen Maultieren getragen. Stellen Sie
sich das Ausmass der Dinge vor, die diese Karawanen erleben, wenn sie von einem
Land zum anderen reisen, bis sie zum Beispiel Amsterdam erreichen. Und stellen
Sie sich vor, welche Angst und welchen Schrecken sie unter den Menschen
verschiedener Regionen auslösen, um diesen 80-Millionen-Dollar-Handel
aufrechtzuerhalten.
 
Ich befragte einen Beamten in Taibad zur Zahl der Morde, die von Schmugglern
begangen werden. Die Zahlen sagen, dass innerhalb von zwei Jahren 105 Menschen
entweder gekidnappt oder ermordet wurden. Über 80 Entführte sind wieder
freigelassen worden. Ich teilte schnell 105 durch die 104 Wochen der zwei Jahre....